Hörfunkbeitrag in der Reihe 'Streitkräfte und Strategien
NDR 4, 23. Januar 1998
Hartwig Spitzer
Universität Hamburg
Arbeitsgruppe für Naturwissenschaft und Internationale Sicherheit (CENSIS)
Am 13. September letzten Jahres stieß eine Tupolev der Bundesluftwaffe über dem Südatlantik mit einem amerikanischen Transportflugzeug zusammen. Alle 34 Insassen beider Maschinen fanden den Tod. Die Tupolev war auf einem Personenflug der Flugbereitschaft nach Südafrika. Bei dem Flugzeug handelte es sich aber nicht um irgendeinen Personentransporter, sondern um das einzige Open-Skies-Flugzeug, über das die Bundesrepublik verfügt hat. Es war noch am Vorabend aus Archangelsk von einem Open-Skies-Übungsflug über Nordrußland zurückgekehrt. Wohlgemerkt kein Spionageeinsatz, sondern eine gemeinsam mit Rußland vereinbarte Übung nach den Regeln des Vertrages über den Offenen Himmel.
Die Bundesregierung hatte bald nach der Unterzeichnung des multilateralen Open-Skies-Vertrages im Jahre 1992 entschieden, die dreistrahlige Langstreckenmaschine vom Typ Tupolev 154 M für solche Beobachtungsflüge umzurüsten. Die Maschine war noch 1989 von der Interflug, der damaligen DDR angeschafft worden und nach der Vereinigung in Bundesbesitz gelangt.
Die Entscheidung für den Typ Tupolev war Grundlage einer Vereinbarung mit Rußland. Sie erlaubt es Deutschland als einzigem der bislang 27 Vertragsstaaten, russisches Territorium mit einem eigenen Flugzeug zu überfliegen und nicht auf die sonst übliche Taxi-Option, d.h. auf die Benutzung einer russischen Maschine zurückgreifen zu müssen. Bereits 1995 war die deutsche Tupolev zum ersten Mal über Sibirien im Einsatz auf einer Gesamtstrecke von 6500 Kilometern. Dabei wurden zahlreiche Standorte mit militärischem Großgerät überflogen und fotografiert. Ein weiterer Bestandteil der Vereinbarung mit Rußland ist die gemeinsame Entwicklung und Beschaffung eines Radarbildsystems für Open-Skies-Zwecke, das in diesem Jahr an Deutschland ausgeliefert werden sollte. Aber nun fehlt das Flugzeug.
Doch erst einmal zu der Frage, was der Vertrag über einen offenen Himmel leisten soll. Die Idee ist einfach und zukunftsweisend zugleich. Jedes beteiligte Land öffnet seinen gesamten Luftraum für Beobachtungsflüge der Vertragspartner und zeigt damit, daß es nichts zu verbergen hat. Die Flüge werden kooperativ durchgeführt, das heißt, Experten des Landes, das überflogen wird, sind mit an Bord. Und Kopien der aufgenommenen Bilder stehen allen beteiligten Staaten zur Verfügung. All das trägt dazu bei, daß Vertrauen durch Offenheit und Transparenz auf Regierungsebene gestärkt wird - im Gegensatz zu der Geheimnistuerei, mit der Aufnahmen militärischer Aufklärungssatelliten in der Regel behandelt werden.
Ungarn und Rumänien hatten sich bereits 1991 - ein Jahr vor der offiziellen Unterzeichnung des Vertrages - auf ein zweiseitiges Open-Skies-Abkommen verständigt. Seit 1992 finden jährlich je drei bis vier gegenseitige Überflüge von militärischen und anderen Einrichtungen statt. Die Flüge haben wesentlich dazu beigetragen, daß die politischen Spannungen zwischen beiden Ländern nicht in militärische Gewalt umgeschlagen sind, sondern sogar verringert wurden.
Den multilateralen Open-Skies-Vertrag von 1992 haben inzwischen 27 Staaten unterzeichnet oder sogar schon ratifiziert, darunter alle 16 NATO-Mitglieder. Weiterhin gehören dazu Rußland, Weißrußland, die Ukraine, Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Georgien und Kirgistan. Damit ist praktisch das ganze Gebiet von Vancouver bis Wladiwostock für Kontroll- und Beobachtungsflüge offen. Eingesetzt werden dabei Foto- und Videokameras mit einer Bodenauflösung von 30 cm, sowie Wärmebild- und Radarbildsysteme. Damit lassen sich die Typen von militärischem Großgerät, soweit es nicht versteckt wird, ohne weiteres erkennen.
Der Vertrag ist allerdings noch nicht in Kraft, weil er unter anderem von den Parlamenten in Moskau, Kiew und Minsk noch nicht ratifiziert worden ist. Dennoch haben schon zahlreiche bilaterale Versuchsflüge stattgefunden. Die Aussichten für eine baldige Ratifizierung des multilateralen Open-Skies-Vertrages vor allem durch die russische Duma sind im letzten Jahr deutlich gestiegen. Denn bei kommunistischen und nationalistischen Abgeordneten wächst inzwischen die Einsicht, daß die Aufklärungsmöglichkeiten durch Open-Skies-Flüge angesichts der NATO-Osterweiterung und finanzieller Schwierigkeiten beim Einsatz eigener Satelliten im ureigensten russischen Interesse liegen. Bereits im Sommer letzten Jahres haben Abgeordnete der Duma an einem russischen Open-Skies-Probeflug über den USA teilgenommen und konnten sich so von den Vorteilen des Vertrages persönlich überzeugen. So besteht Hoffnung, daß der Vertrag noch in diesem Jahr in Kraft treten wird.
Das Jahr 1997 hat für die Open-Skies-Idee jedoch noch einen anderen wichtigen Durchbruch gebracht, und zwar ausgerechnet in Bosnien-Herzegowina. Der ungarische Botschafter Marton Krasznai hatte 1996 zum erstenmal auf die Vorteile eines offenen Himmels über Bosnien hingewiesen. Krasznai war damals persönlicher Beauftragter des Vorsitzenden der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, für die Umsetzung von Teilbereichen des Dayton-Abkommens. Mit diplomatischem Geschick hat Krasznai damals sein Vorgehen inszeniert. Zunächst wurden im Oktober 1996 Militärvertreter der drei bosnischen Parteien, aber auch aus Zagreb und Belgrad zu einem amerikanisch-ungarischen Open-Skies-Übungsflug nach Ungarn eingeladen. Das viertägige Programm bot den Beteiligten viele gute Gelegenheiten, um praktische Erfahrungen zu sammeln und informelle Kontakte zu knüpfen.
Als nächstes richtete die OSZE im Februar 1997 ein zweitägiges Seminar in Sarajevo aus. Thema waren regionale vertrauensbildende Maßnahmen und die Praxis des offenen Himmels. Die politischen und militärischen Führungen der drei bosnischen Parteien sowie die Regierungen in Belgrad und Zagreb waren durch hochrangige Delegationen vertreten.
Im März 1997 hatten sich Ungarn und Rumänien dann darauf verständigt, eine gemeinsamen "Open-Skies"-Vorführflug über Bosnien anzubieten. Das Angebot ging formal an die Regierung der Republik von Bosnien und Herzegowina. Aber erst nach komplizierten Verhandlungen mit den Militärführungen der bosnischen Muslime, Serben und Kroaten konnte eine Einigung erzielt werden. Die SFOR, die den Luftraum über Bosnien kontrolliert, gab ebenfalls ihre Einwilligung und bot Unterstützung an. Im Juni war es dann so weit. Das ungarische Open-Skies-Flugzeug unternahm an zwei aufeinander folgenden Tagen je einen Bildflug. An Bord befanden sich Vertreter der bosnischen Parteien sowie internationale Beobachter. Die vereinbarten Fotoziele waren vier Militärstandorte im muslimischen Kanton, drei im serbischen und zwei im kroatischen. Durch eine Mehrfach-Aufnahmetechnik konnten mehrere Bilder derselben Objekte aufgenommen werden. Am Ende erhielten der Staat Bosnien-Herzegowina und die Militärführungen der drei Parteien je einen Bildsatz. Das heißt, jeder weiß, was der andere sieht.
Am 26. August folgte dann ein Flug mit der deutschen Tupolev. Er führte von Split auf einer Zick-Zack-Route praktisch über jeden Landesteil von Bosnien-Herzegowina. Dabei wurden insgesamt 122 Bodenziele fotografiert - davon die Hälfte mit ausschließlich zivilen Anlagen. Die Zielgebiete waren von den Konfliktparteien selbst vorgeschlagen und abgestimmt worden. Jede der Parteien erhielt wiederum einen kompletten Satz von Bildkopien.
Mit diesem deutschen Flug wurde eine neue Qualität erreicht. Die Bilder haben nämlich nicht nur symbolischen Charakter, sondern - dank guter Qualität und der großen Zahl der Zielgebiete - sind sie auch von operationellem Nutzen für die beteiligten Parteien. Die Bilder der zivilen Anlagen sollen nämlich für den zivilen Wiederaufbau sowie die Regionalplanung genutzt werden.
Der vorerst letzte Flug über Bosnien am 5. und 6. November 1997 wurde gemeinsam von den USA und Rußland mit einer russischen Maschine vom Typ Antonov-30 durchgeführt, ein konkreter Beweis für die Kooperationsbereitschaft der beiden Mächte bei der Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung in Bosnien. Der logische nächste Schritt wäre nun die Vereinbarung eines regionalen Open-Skies-Abkommens für Bosnien-Herzegowina als vertrauensbildende Maßnahme nach dem Dayton-Vertrag. Hierbei könnten auch Nachbarn wie Kroatien oder die Bundesrepublik Jugoslawien einbezogen werden. Wann konkrete Absprachen zu erwarten sind, ist in anbetracht der schleppenden Entwicklung des Friedensprozesses offen, auch wenn Optimisten noch in diesem Jahr damit rechnen.
Unklar ist jedoch vor allem - um auf den Anfang zurückzukommen - wie es mit dem deutschen Open-Skies-Programm nach dem tragischen Absturz am 13. September weitergeht. Das Außenministerium drängt darauf, daß Deutschland auch in Zukunft ein eigenes Flugzeug einsetzen kann. Im Verteidigungsministerium besteht jedoch Klärungs- und Abstimmungsbedarf. Denn einerseits plädiert das Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr dafür, die zweite, zur Zeit eingemottete Tupolev-Maschine aus der DDR-Erbmasse für Open-Skies-Einsätze umzurüsten. Andererseits möchte die Luftwaffe für diesen Zweck gerne einen zusätzlichen Airbus anschaffen. Dabei würden jedoch nicht nur zusätzliche Anschaffungskosten von ca. 70 Millionen Mark entstehen, sondern auch wesentlich höhere Umrüstungskosten. Zudem würde die Umrüstung bei einem Airbus deutlich länger dauern, als bei der Tupolev, bis weit über das Jahr 2000 hinaus. Als Vorteil gilt dagegen, daß ein Airbus mit niedrigeren Betriebs- und Personalkosten betrieben werden könnte. Fraglich ist nur, ob Präsident Jelzin oder dessen Nachfolger dann - wie beim letzten deutschen Open-Skies-Flug - das Überfliegen Rußlands mit einem ausschließlich westlichen Militärflugzeug noch einmal genehmigt.