erweiterte Version eines Beitrags für `Streitkräfte und Strategien',
Hörfunksendung im NDR 4, Hamburg, 4. April 1997


PERSPEKTIVEN FÜR EINEN OFFENEN HIMMEL

Erfolge, Blockaden, Chancen

Hartwig Spitzer
Universität Hamburg
Arbeitsgruppe für Naturwissenschaft und Internationale Sicherheit (CENSIS)

Der Vertrag über den offenen Himmel vom März 1992 hat bisher im Verborgenen geblüht. Dabei ist die Idee eines militärisch offenen Himmels von zukunftsweisender Kraft. Jetzt droht die endgültige Ratifizierung des Vertrages in den Strudel um die NATO-Osterweiterung zu geraten. Es gibt aber auch unerwartete Chancen für die Open-Skies-Idee, ausgerechnet im Krisenherd Jugoslawien. Erinnern wir uns: Im Mai 1989 versuchte der frisch gewählte Präsident Bush die Initiative in der Rüstungskontrollpolitik von Michael Gorbatschov zurück- zugewinnen und ihn zugleich in Punkto Glasnost zu testen. Er griff den Vorschlag eines militärisch offenen Himmels - Open Skies genannt - auf, den Präsident Eisenhower im Jahre 1955 gemacht hatte: " "Jetzt lassen Sie uns diesen Vorschlag erneut erkunden, aber auf einer breiteren, durchdringenderen und radikaleren Basis, in einem Rahmen der, wie ich hoffe, auch die Alliierten beider Seiten einschließt." Bush stieß auf überraschend positive Resonanz, sowohl innerhalb des NATO-Bündnisses als auch bei der sowjetischen Regierung. Besonders aktive Unterstützung kam von Kanada und Ungarn. So konnten bereits Anfang 1990 zwei Open-Skies-Konferenzen in Ottawa und Budapest abgehalten werden. Die Einigung kam dann in einer dritten Verhandlungsrunde von September 1991 bis März 1992 zustande. Inzwischen saßen nach der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Paktes neben allen NATO-Staaten Rußland, die Ukraine, Weißrußland sowie die ehemaligen Verbündeten Bulgarien, Polen, Rumänien, Ungarn und die Tschechoslowakei mit am Tisch. Georgien und Kirgisien haben den Vertrag am 24. März 1992 beim KSZE-Gipfel in Helsinki ebenfalls unterzeichnet.

Nach der Präambel des Vertrages sollen wechselseitige, gemeinsam durchgeführte Beobachtungsüberflüge zur Weiterentwicklung und Stärkung von Frieden, Stabilität und kooperativer Sicherheit im Gebiet der Mitgliedsstaaten beitragen. Dabei geht es zunächst um die Verbesserung von Offenheit und militärischer Transparenz und um die Überwachung von Rüstungskontrollabkommen. Später sind auch Einsätze für Krisenmanagement und für den Schutz der Umwelt möglich. Die Beobachtungsüberflüge werden - wie bei anderen sicherheitsbildenden Abkommen - nach einem Quotensystem auf dem Prinzip der Reziprozität durchgeführt. Jedes Land muß gleichviel Überflüge über seinem Territorium zulassen, wie es anderswo durchführen kann. Für Deutschland sind es zwölf, für die USA und Rußland im Verbund mit Weißrußland je 42 Flüge pro Jahr. Bemerkenswert ist dabei, daß praktisch das ganze Gebiet der Teilnehmerstaaten von San Francisco bis Wladiwostok für Beobachtungsflüge offen ist. Anfangs kommen photographische und Videokameras mit einer Bodenauflösung von 30 Zentimetern zum Einsatz, später auch Wärmebildkameras und Radarbildsysteme . Damit läßt sich unverdecktes, großes militärisches Gerät dem Typ nach ohne weiteres erkennen.

Neu ist auch der Austausch der gewonnenen Informationen, also der Bilder, die von den Flugzeugen aus aufgenommen werden. Jeder Vertragsstaat kann Kopien der Bilder aller Beobachtungsflüge erwerben, selbst wenn er nicht daran beteiligt war. Daraus ergibt sich insbesondere für die Staaten, die über keine eigenen Aufklärungssatelliten verfügen, ein Informationsgewinn. Es gibt allerdings auch Grenzen der Offenheit. Die Bilddaten dürfen nämlich nur für Vertragszwecke verwendet werden und bleiben in der Obhut regierungsamtlicher Stellen. Wissenschaftler oder die Öffentlichkeit zum Beispiel haben kein Zugang. Trotzdem hat die völlige Öffnung des Luftraums für kooperative Beobachtungsflüge eine symbolische und praktische Bedeutung, die weit über die der örtlich begrenzten Vor-Ort-Inspektionen anderer Verträge hinausgeht.

Allerdings: Der Vertrag kann erst in Kraft treten, wenn er von den Parlamenten aller Staaten, die über eine Quote von mehr als 8 Flügen pro Jahr verfügen, ratifiziert worden ist. Zwar haben ihn die meisten Staaten inzwischen angenommen, aber alle Ratifizierungsversuche in der russischen Duma und in der ukrainischen Rada sind bisher gescheitert. In Kiew mag das an mangelnder Vorbereitung und an finanziellen Sonderwünschen liegen. In Moskau liegen die Probleme tiefer. Nicht nur der Open-Skies-Vertrag steht in der Warteschlange, sondern auch das Start-II-Abkommen und das Chemiewaffenabkommen. Viele Abgeordnete der Duma sind offenbar vom Westen enttäuscht und sehen in Rüstungskontrolle und größerer militärischer Transparenz keine Vorteile für Rußland. Hinzu kommen die Irritationen durch die NATO-Osterweiterung. Im Moment wagt unter westlichen Experten niemand eine feste Vorhersage, ob und wann die Duma den Open-Skies-Vertrag annimmt. Optimisten sprechen von 1998. Sie können zurecht darauf verweisen, daß Rußland durch Bereitstellung und Ausrüstung von sechs Beobachtungsflugzeugen vom Typ Antonov 30 bereits beträchtliche Vorleistungen erbracht hat. Auch dürften Open-Skies-Flüge über Osteuropa und Nordamerika gerade nach einer NATO-Osterweiterung im russischen Interesse liegen. Aber diese Einsicht besteht nur in Teilen der russischen Regierung und des russischen Militärs, insbesondere in dem für Open-Skies zuständigen Nuklearen Risiko-Verminderungszentrum, nicht aber bei vielen Abgeordneten in der Duma.

Wie könnte es bei Fortbestehen dieser Blockade weiter gehen? Es gibt mindestens zwei Möglichkeiten: Entweder der Vertrag stirbt mangels Ratifizierung durch einen Hauptpartner aus, oder es wird nachImplementierungsschritten - etwa als vertrauensbildende Maßnahme - unterhalb der Ratifizierungsebene gesucht. Dafür spricht dann doch einiges. Denn nicht nur Rußland, auch die meisten anderen Vertragsstaaten haben bereits erhebliche Investitionen getätigt und bei Testflügen von den Früchten des Vertrages gekostet. So haben Bulgarien, Deutschland, Großbritannien, Rumänien, Rußland, Tschechien, die Ukraine, Ungarn und die Vereinigten Staaten ein oder mehrere Flugzeuge speziell für Open-Skies umgewidmet. In Deutschland ist es eine nagelneue Tupolev 154 M, die die Bundeswehr aus der Flugbereitschaft der DDR-Regierung übernommen hat. Seit 1992 werden - erst vereinzelt und inzwischen regelmäßig - zweiseitige Probe- und Übungsflüge durchgeführt. Diese Flüge haben einen erheblichen Erfahrungs- und Informationsgewinn eingebracht.

Die deutschen Open-Skies-Flüge werden vom Zentrum für Verifikationsauf- gaben der Bundeswehr in Geilenkirchen vorbereitet und durchgeführt. Die Bildauswertung erfolgt beim Amt für Militärisches Nachrichtenwesen in Köln-Wahn. Deutschland hat bisher als einziges westliches Land zwei Beobachtungsübungsflüge über Sibirien mit einer Gesamtlänge von 8900 km durchgeführt. Dabei wurden zahlreiche Standorte mit großem militärischen Gerät überflogen, darunter Waffen, die kurz vor Abschluß des KSE-Vertrages nach Sibirien gebracht worden waren, aber auch Systeme, die nicht unter den KSE-Vertrag fallen, wie Raketen. Laut Oberst i.G. Götz Sperling, dem Leiter der Open-Skies-Abteilung in Geilenkirchen, ist damit eine erste Bestandsaufnahme von militärischem Großgerät hinter dem Ural im Ansatz gelungen.

Neben dem multilateralen Open-Skies-Vertrag von 1992 gibt es eine weitere bilaterale Vereinbarung, die sich bewährt hat, und zwar das rumänisch-ungarische Open-Skies-Abkommen, das schon 1991 abgeschlossen worden ist. Danach werden jährlich jeweils drei bis vier Beobachtungsüberflüge über Rumänien und Ungarn durchgeführt. Die Militärs beider Länder gucken sich also auch nach der Wende gegenseitig in die Karten. Sie haben wesentlich dazu beigetragen, daß die politischen Spannungen zwischen beiden Ländern niemals auf die militärische Ebene eskalierten, sondern eher abgebaut wurden. Beide Länder haben zusätzlich im Jahr 1996 Vertrauensbildende Maßnahmen vereinbart, die deutlich über das Wiener Dokument hinausgehen (Abkommen von Arad).

Rumänien und Ungarn sind also Pioniere und alte Hasen der Open-Skies-Praxis. So wird es verständlich, daß der OSZE-Botschafter Ungarns, Marton Krasznai, im Herbst 1996 die Idee eines offenen Himmels über Jugoslawien ins Spiel brachte. Krasznai ist zur Zeit der persönliche Vertreter des Vorsitzenden der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) für die Umsetzung von Artikel 2 des Dayton-Abkommens. Im Rahmen der Vorgaben von Artikel 2 haben sich die drei bosnischen Parteien am 26. Januar 1996 in Wien u.a. auf gegenseitige Vertrauensbildende Maßnahmen verständigt. Zu diesen Maßnahmen zählen Seminare, die von der OSZE organisiert werden. Das erste Seminar zum Thema Œ"Verhaltenskodex und demokratische Kontrolle von Armeen" fand im Dezember 1996 statt. Das zweite Seminar behandelte am 12. und 13. Februar 1997 in Sarajevo Œ"Regionale Vertrauensbildende Maßnahmen und Open Skies". Ich hatte selbst Gelegenheit, an diesem Seminar teilzunehmen.

Das Seminar fand im Dom Armija im Zentrum der Stadt statt, einem Offizierskasino, das noch aus der Zeit der oesterreichischen Herrschaft stammt. Eingeladen waren Delegationen der drei bosnischen Parteien, nämlich Republika Srpska, dem Staat Bosnien-Herzegowina und der muslimisch-kroatischen Föderation. Außerdem kam eine stattliche Anzahl von Beobachtern aus Belgrad und Zagreb, sowie ein Slowene. Unter den Delegierten waren hochrangige Militärs und stellvertretende Minister. Die Beobachtergruppe aus Belgrad nahm demonstrativ inmitten der Delegation aus Pale Platz. Gegenüber saßen die Vertreter der bosnischen Kroaten und Muslime. Die eingeflogenen Sprecher referierten zunächst über bilaterale Vertrauensbildende Maßnahmen, die seit 1992 auf dem Balkan vereinbart worden sind, zwischen der Türkei und Bulgarien zum Beispiel, zwischen Griechenland und Bulgarien und zwischen der Türkei und der früheren jugoslawischen Republik Mazedonien. Im Mittelpunkt stand jedoch das Konzept von Open- Skies und dessen mögliche Anwendungen in der Region. Nach einem weiteren OSZE-Seminar über ŒMilitärstrategien¹, das im April 1997 in Pale durchgeführt werden soll, sind Open-Skies-Demonstrationsflüge anvisiert, die den drei bosnischen Parteien und ihren Nachbarn Anschauungsunterricht zu den Vorteilen eines offenen Himmels liefern sollen. Der weitere Prozess ist offen.

Eine Reise nach Sarajevo ist heute immer noch etwas beschwerlich. Die Stadt ist nur schwer zu erreichen. Die Straßenverbindungen sind im Winter vereist. Der Bahnhof liegt tot und zerschossen da. Auf dem notdürftig wiederhergestellten Flugplatz führt die Air Bosna nur ein bis zwei zivile Flüge am Tag aus. Dafür landen reichlich Transportflugzeuge der SFOR-Truppen. Die OSZE hat ein kleines zweimotoriges Flugzeug gechartert, das einmal pro Woche von Wien nach Sarajevo verkehrt und uns sicher hinbrachte. Wir wurden von französischen Soldaten unter einer wehenden Trikolore empfangen. Hinter den Stacheldrahtverhauen und Behelfsbauten öffnete sich der Blick auf der einen Seite zu den bedrohlich nahen Bergen und auf der anderen Seite auf das furchtbar zerschossene olympische Dorf. Das Leben hat sich in Sarajevo trotz großer Zerstörungen wieder normalisiert. Auf den Hauptstraßen flaniert die Jugend. Trotzdem lastet über der Stadt eine große Spannung. Es fehlt der Glaube, daß die verschiedenen Landesteile aus eigenen Kräften ein friedliches Zusammenleben gestalten können. Wer in Bosnien einen Kompromiß sucht, erscheint als schwach. Das erschwert das Finden von tragfähigen Lösungen.

Eines war jedoch in Sarajevo unübersehbar: das Mißverhältnis zwischen den Ausgaben für die Kriegsverhinderung einerseits und für die Friedensstiftung und den zivilen Aufbau andererseits. Während allein für das deutsche SFOR- Kontingent jährlich über 350 Millionen Mark an zusätzlichen Steuermitteln aufgebracht werden, kann die gesamte OSZE nur über ein Jahresbudget von 30 Millionen Dollar verfügen, im Jahr 1996 allerdings ergänzt durch eine Sonderzuweisung von weiteren 30 Millionen Dollar für die OSZE-Arbeit in Bosnien. Auf dem Balkan sind Lokalkenntnis, Ausdauer, Festigkeit und Flexibilität gefragt. Eine rasch wechselnde Truppe wie die SFOR ist eine teure Kurzzeitlösung. Die OSZE braucht und verdient mehr Unterstützung für konstruktive Lösungen mit langem Atem.